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Das Märchen der taktischen Aufstellung

 

Das Schachspiel ist stark von Taktik und Strategie geprägt. Beim Fußball kennt man taktische Aufstellungen zur Genüge. Und wie sieht es beim Schach aus?
Normalerweise stellt man eine Mannschaft nach Spielstärke auf. Eine beliebte Maßnahme sieht wie folgt aus: Am Spitzenbrett wird ein schwacher Spieler aufgestellt. Dieser "Strohmann" wird mit an Sicherheit gegen den Spitzenspieler des Gegners verlieren. An den nachfolgenden Brettern hat man im Gegenzug eine höhere Gewinnerwartung und kann mehr Punkte holen. So der Plan, aber geht die Rechnung auf? Rechnen wir nach...

Berechnung der Gewinnerwartung

Sind zwei Spieler gleich stark, gewinnt mal der eine, dann der andere oder es kommt zum Remis. Werden genügend Partien gespielt, so wird statistisch gesehen die Punkteverteilung bei 50:50 stehen. Natürlich kann es Abweichungen geben. Die Normalverteilung (auch Gauß-Verteilung genannt) gibt die Wahrscheinlichkeit dazu an. Um die Gewinnerwartung zu Ermitteln, muss man eine Integralrechnung durchführen. Da es sich um eine Exponentialfunktion handelt, ist das Berechnen nicht trivial und man nutzt statt dessen eine lineare Näherungsformel.

Die Näherungsformel

Die lineare Näherungsformel zum Berechnen der Gewinnerwartung ist sehr gut, wenn der DWZ-Unterschied zwischen den Spielern gering ist. Je größer der DWZ-Unterschied ist, umso schlechter ist die Näherungsformel. Ab einem DWZ-Unterschied von 400 ist die Näherungsformel schon viel zu ungenau, weshalb man bei der Berechnung bei 400 abschneidet.

Es werden nur die ersten beiden Nachkommastellen bei der Berechnung betrachtet. Bei kleinen DWZ-Unterschieden, liefert die Näherungsformal exakte Werte. Danach wird es etwas schlechter. Die Formel lautet:

We = 1 / 1 + 10^(ΔD/400)

wobei:
We = Gewinnerwartung
ΔD = DWZ-Differenz: (Gegner) DWZ - (meine) DWZ

Bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit greift man heutzutage auf Tabellen zurück. Das hat den Vorteil, dass man nicht für jeden DWZ-Unterschied den Erwartungswert neu berechnen muss. Im Rahmen der Genauigkeit ist die Tabelle gut genug.


Wahrscheinlichkeitstabelle als Basis zur DWZ-Berechnung (Quelle: DSB)

Die taktische Mannschaftsaufstellung

Betrachten wir folgende Mannschaftsaufstellung. In der ersten Spalte sind die DWZ der Spieler der Mannschaft A aufgelistet, in der zweiten Spalte die der Mannschaft B. In der letzten Spalte ist die Gewinnwahrscheinlichkeit des Spielers der Mannschaft A angegeben. Gemäß der Tabelle liegt bei einem DWZ-Unterschied von 18-25 eine Gewinnerwartung von 0,53 vor. Für solch kleine DWZ-Unterschiede liefert die Näherungsformel bessere Werte. Berechne ich mit der Näherungsformel den Wert für ΔDWZ = 25 erhält man als Wert 0,535.

Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B1: 1875 0,535
A2: 1875B2: 1850 0,535
A3: 1850B3: 1825 0,535
A4: 1825B4: 1800 0,535

Die Mannschaft A sollte also statistisch gesehen mit 53,5% gewinnen, im Durchschnitt also 2,14 Punkte holen. Okay, stellen wir nun taktisch auf und schauen uns die Gewinnerwartung an. (Der Einfachheit halber verwende ich nun die Werte aus der obigen Tabelle für We.)

Variante 1 Variante 2 Variante 3
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B4: 1800 0,64
A2: 1875B1: 1875 0,50
A3: 1850B2: 1850 0,50
A4: 1825B3: 1825 0,50
Summe We (A): 2,14
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B3: 1825 0,60
A2: 1875B4: 1800 0,60
A3: 1850B1: 1875 0,47
A4: 1825B2: 1850 0,47
Summe We (A): 2,14
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B4: 1800 0,64
A2: 1875B3: 1825 0,57
A3: 1850B2: 1850 0,50
A4: 1825B1: 1875 0,43
Summe We (A): 2,14

Wie man aus den Tabellen erkennt, ändert sich an der Gewinnerwartung für die Mannschaft nichts. Zwar kann man die Gewinnerwartung eines Spielers erhöhen, muss aber an anderer Stelle eine Verringerung wieder in Kauf nehmen. Es gleicht sich alles aus. Daraus folgt:
Taktische Aufstellungen erhöhen nicht die Gewinnwahrscheinlichkeit!

Der Strohmann

Bei den Mannschaftskämpfen passiert es naturgemäß, dass ein Spieler fehlt. Dafür gibt es Ersatz, der allerdings nicht immer verfügbar ist. Angenommen Brett 1 fällt aus. Wenn nur ein ganz schwacher Spieler verfügbar ist, soll man aufrücken und den Spieler einsetzen oder einfach mit einem Mann weniger antreten? Bevor wir nachrechnen, denken wir mal nach. Durch das Aufrücken verschlechtert sich die Gewinnerwartung, wir bekommen ein -ΔWe. Kampflos bedeutet eine Gewinnerwartung von 1. Ein Ersatzspieler sollte also eine Gewinnerwartung von mindestens ΔWe haben, damit sein Einsatz gerechtfertigt wird. Rechnen wir nach unter der Voraussetzung, dass der schwächste Mann B4 vorne aufgestellt ist, ausfällt und nun der Ersatzspieler B5 eingesetzt wird (oder auch nicht):

Ohne ErsatzWe Ersatz < ΔWeWe Ersatz > ΔWe
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B4: ---- 1,00
A2: 1875B1: 1875 0,50
A3: 1850B2: 1850 0,50
A4: 1825B3: 1825 0,50
Summe We (A): 2,50
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B1: 1875 0,53
A2: 1875B2: 1850 0,53
A3: 1850B3: 1825 0,53
A4: 1825B5: 1325 0,96
Summe We (A): 2,55
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A1: 1900B1: 1875 0,53
A2: 1875B2: 1850 0,53
A3: 1850B3: 1825 0,53
A4: 1825B5: 1525 0,85
Summe We (A): 2,44

Durch das Aufrücken hat sich für B1-B3 jeweils eine Verschlechterung der Gewinnerwartung von 0,03 ergeben, was insgesamt 0,09 macht. Werfen wir einen Blick in die Tabelle, bedeutet das in unserem Beispiel, dass der DWZ-Unterschied von 375-391 zum Spieler A4 die Entscheidungsgrenze ist. Natürlich nur unter der Annahme, dass nicht auch Mannschaft A einen Ersatzspieler benötigt. Das würde die Berechnung schnell ad absurdum führen..

Wie sieht es aus, wenn A auch taktisch aufstellt? A4 ans erste Brett setzt?

Ohne ErsatzErsatz sehr schwachErsatz normal
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A4: 1825B4: ---- 1,00
A1: 1900B1: 1875 0,53
A2: 1875B2: 1850 0,53
A3: 1850B3: 1825 0,53
Summe We (A): 2,59
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A4: 1825B1: 1875 0,43
A1: 1900B2: 1850 0,57
A2: 1875B3: 1825 0,57
A3: 1850B5: 1325 0,97
Summe We (A): 2,54
Mannschaft AMannschaft BWe (A)
A4: 1825B1: 1875 0,43
A1: 1900B2: 1850 0,57
A2: 1875B3: 1825 0,57
A3: 1850B5: 1525 0,87
Summe We (A): 2,44

Immer, wenn Mannschaft B einen Ersatzspieler verwendet, erhalten wir die selben Erwartungswerte wie in der Tabelle drüber. Gemäß der ersten Erkenntnis, ändert eine willkürliche Aufstellung der Mannschaft nichts an der Gewinnerwartung. Anders ist die Sachlage, wenn das Brett frei bleibt. Hier kann A seine Gewinnerwartung erhöhen, in dem A seinen schwächsten Spieler am freien Brett aufstellt.

Braucht man also eine Strohmannregelung? Meiner Meinung nach nein. Denn die Mannschaft, die mit einem Brett weniger antritt, hat seine Gewinnerwartung eh schon drastisch geschmälert und das Spielchen mit Nichtaufrücken kann bei weitem nicht diesen Nachteil egalisieren. Und wenn man die Mannschaft wirklich weiter bestrafen will (aus welchem Grund auch immer), wäre es das einfachste, die feste Brettregelung zu kippen und es den Mannschaften erlauben, frei aufzustellen. Denn eine beliebige Aufstellung ändert an der Gewinnerwartung nichts und sollte eine Mannschaft mit einem Mann weniger auftreten, hilft ihr eine Strohmannaufstellung nichts und sie wird bestraft. Das würde dazu führen, dass sich eine Mannschaft 2x überlegt, ein Brett frei zu lassen.

Fazit: Taktische Aufstellung

- Eine taktische Aufstellung ändert nicht die Gewinnwahrscheinlichkeit! Sich dadurch bessere Chancen zu erhoffen, gehört ins Reich der Phantasie.

- Man ändert nur die Gewinnwahrscheinlichkeit der einzelnen Spieler. Die Summe der Mannschaft ist immer gleich.

- Einen Brett frei lassen, kann bei großen DWZ-Unterschieden sinnvoll sein.


Hinweis. Wer jetzt die Tabelle zum Nachrechnen nimmt, um zu schauen, ob dies auch für seine Mannschaft zutrifft, der sei gewarnt, dass die Zahlen in der Tabelle gerundet sind. Es sind keine exakten Werte, sondern nur hinreichend genaue Werte für die Berechnung. Das kann dazu führen, dass bei der zweiten Nachkommastelle Rundungsfehler sich summieren und man fälschlicherweise zu abweichenden Ergebnissen kommt. In meinem Beispiel oben, habe ich die Gewinnwahrscheinlichkeit für ΔDWZ = 25 mit der Näherungsformel auf 0,535 berechnet. Hätte ich den Tabellenwert von 0,53 verwendet, wäre die Summe We (A) = 2,12. Dadurch, dass Mannschaft B taktisch umstellt, wäre die Gewinnerwartung von A sogar (laut Tabelle) um 0,02 gestiegen! Also, Vorsicht mit Zahlenbeispielen. Und die Näherungsformel ist auch nur bis ΔDWZ <= 100 hinreichend genau.